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Vergeblich gewartet

 

Eine strukturierte und selbstkritische Analyse der katastrophalen Niederlage der Partei Die Linke bei der Bundestagswahl am 26. September 2021 steht weiter aus. Die Parteispitze hat personelle Konsequenzen ausgeschlossen und verweist für die inhaltliche Auswertung auf den geplanten Bundesparteitag im Juni. Aktuell sind es vor allem langjährige Mitglieder der Partei, die eine zügige Analyse und eine strategische Kurskorrektur einfordern. Zuletzt hatten sich Christa Luft und Hans Modrow zu Wort gemeldet. Wir dokumentieren an dieser Stelle eine Erklärung, die von mehr als 70 Mitgliedern der Partei unterzeichnet wurde, darunter Ekkehard Lieberam, Harri Grünberg, Marianne Linke, Ina Leukefeld und Bärbel Schindler-Saefkow (siehe unten).

 

"Aber eine Partei ist nicht, was sie von sich sagt und glaubt, sondern was sie tut."
Rosa Luxemburg, 1900

Die aktuelle Situation unserer Partei ist desaströs und gefährlich. Vier Monate nach der Bundestagswahl gibt es weder eine tragfähige Analyse der verheerenden Niederlage noch einen Neustart oder eine Kurskorrektur hin zu einer kämpferischen sozialistischen Partei. Die eindringliche Forderung von Ferdinand Lassalle und Rosa Luxemburg – "Sagen, was ist" – bleibt unbeachtet. Die Verantwortlichen der Niederlage fürchten offenbar berechtigte Kritik. Eine erkennbare Parteidebatte von unten hat sich nicht entwickelt. Christa Luft hat den Parteiaustritt gewählt und dafür in ihrer Erklärung triftige Gründe genannt. Andere sind am Überlegen, was sie tun sollen. Das sind für uns Alarmsignale.

Wir können so weitermachen wie bisher. Dann wird es uns aber als politische Kraft bald nicht mehr geben. Zu Recht weist Hans Modrow (in dieser Zeitung am Dienstag, jW) auf eine "letzte Chance" hin, die wir noch haben. Als systemoppositionelle Partei hatten wir uns bereits vor den Bundestagswahlen 2021 erkennbar verabschiedet. In der Strategiedebatte 2020 stellte Friedrich Wolff die berechtigte Frage: "Aber sind wir noch eine sozialistische Partei?" und antwortete, ohne dass ihm widersprochen wurde: "Nach unserem Programm sind wir das, unserer Tagespolitik aber merkt man es jedoch nicht an. Das ist unser Problem. Der Wähler erkennt unseren sozialistischen Charakter nicht mehr. Wir haben ihn versteckt."

Nach der Bundestagswahl kam es nicht etwa zur Abkehr von der Anpassungspolitik, sondern sogar zu ihrer Intensivierung. Susanne Hennig-Wellsow und Janine Wissler veröffentlichten zwei Positionspapiere mit programmatischem Charakter: "Den Kompass neu ausrichten" vom 10. Dezember 2021 und "Für eine linke Transformation. Sozial und klimagerecht" vom Januar 2022. Die Möglichkeit einer positiven sozial-ökologischen Transformation im Rahmen des heutigen Kapitalismus wird bejaht. Wulf Gallert attackierte im ND vom 4. Januar 2022 die noch im Bundestagswahlprogramm enthaltene Ablehnung der Kriegspolitik von USA und NATO. Er kritisierte die Politik Kubas, sich gegen die von Miami finanzierten Contras zur Wehr zu setzen. Auf Proteste unserer Vorsitzenden warteten wir vergeblich.

Im Wahlkampf und in der Tagespolitik gibt es vielfältige Erscheinungen einer politischen Domestizierung unserer Partei, die in der Abkehr von Grundsätzen des Erfurter Programms (am 23. Oktober 2011 beschlossen, jW) ihren Ausdruck finden. Es sind allesamt Grundsätze, die sich an Positionen von Karl Marx und Friedrich Engels orientieren und Die Linke als Partei kennzeichnen, die nicht nur in Opposition zur Regierung, sondern auch zur kapitalistischen Gesellschaft steht.

 

Kapitalistische Gesellschaft

Nach unserem Programm (Präambel) befinden wir uns in "einer Welt, in der Profitinteressen über die Lebensperspektive von Milliarden Menschen entscheiden und Ausbeutung, Kriege und Imperialismus ganze Länder von Hoffnung und Zukunft abschneiden." Wir treten für "Demokratie, Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit und Internationalismus«, für »Frieden, Bewahrung der Natur und Emanzipation" ein. Wir kämpfen gegen "Kapitalherrschaft" und "für einen Systemwechsel, weil der Kapitalismus (...) mit diesen Zielen unvereinbar ist".

Während der letzten Jahre setzte sich in der Partei sukzessive eine andere Sicht durch. Im politischen Tagesgeschäft wird der Beschönigung der politischen Zustände als Demokratie zugestimmt. Von Ausbeutung, Imperialismus und der Lösung der Eigentumsfrage (öffentliches "Eigentum in der Daseinsvorsorge, an der gesellschaftlichen Infrastruktur, in der Energiewirtschaft und im Finanzsektor") wird nur noch selten gesprochen. In programmatischen Aussagen ist nunmehr von "politischer Gestaltung", "Nachhaltigkeitsrevolution" und "Transformation" die Rede. Ein politischer Richtungswechsel wird so in erster Linie zu einer Willensfrage.

Unser Grundsatzprogramm geht von den Marxschen Erkenntnissen aus, dass politische Zustände verschleierte Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnisse und Staatspolitik Ausdruck der Kapitalherrschaft und der Klassenmachtverhältnisse sind: "Die wirtschaftliche und die gesellschaftliche Entwicklung werden ebenso wie das Staatshandeln und die Politik entscheidend von den Interessen des Kapitals bestimmt." Der Kapitalismus selbst bewirkt grundlegende Fehlentwicklungen in Wirtschaft und Politik (so eine "Fehlsteuerung der Wirtschaft" und "gewaltige ökologische Schäden"). In Abschnitt IV bezieht das Programm die Position, dass ein "krisenfreier, sozialer, ökologischer und friedlicher Kapitalismus nicht möglich ist". Eine "andere Entwicklungsrichtung" kann allein "im Ergebnis gesellschaftlicher und politischer Kämpfe und veränderter Machtverhältnisse" erreicht werden.

Dieses Politikverständnis wird als veraltet betrachtet. Das Verständnis linker Politik als "Mobilisierung von Widerstand", als Schaffung politischer, gewerkschaftlicher und geistig-kultureller Gegenmacht ist der Führung der Partei abhanden gekommen. Statt uns auf die zu erwartenden Klassenauseinandersetzungen zwischen Kapital und Arbeit sowie auf den Kampf gegen die sich zuspitzende Kriegspolitik zu konzentrieren, sollen wir zur Vertreterin einer "linken Transformation" werden.

 

Parteien und Parteiensystem

Die Aussage in der Präambel des Erfurter Programms ist klar und eindeutig. Das Programm sieht in den anderen Bundestagsparteien ganz wesentlich Interessenvertreterinnen des Kapitals: "Wir sind und werden nicht wie jene Parteien, die sich devot den Wünschen der Wirtschaftsmächtigen unterwerfen und gerade deshalb kaum noch voneinander unterscheidbar sind."

Von dieser Sichtweise haben führende Kräfte unserer Partei mittlerweile Abschied genommen. Sie imaginieren ein nicht existierendes "linkes Parteienlager". Sie sehen SPD und Grüne als reale Bündnispartner im Kampf um politische Gestaltung. Selbst Phantasien einer künftigen Vereinigung mit der SPD werden nicht zurückgewiesen. Es ist üblich geworden, Abstriche an eigenen Positionen bereits zu machen, wenn SPD und Grüne diese als störend ansehen.

 

Regierungsteilnahme

Im Erfurter Programm heißt es: "Regierungsbeteiligungen der LINKEN sind nur sinnvoll, wenn sie eine Abkehr vom neoliberalen Politikmodell durchsetzen sowie einen sozialökologischen Richtungswechsel einleiten." Sie sollen sich "auf Gewerkschaften und andere soziale Bewegungen und die Mobilisierung außerparlamentarischen Drucks stützen". Fünf rote Haltelinien schließen Mitregieren aus: Kriege und Kampfeinsätze der Bundeswehr, das Vorantreiben von Aufrüstung und Militarisierung, die Privatisierung der Daseinsvorsorge, Sozialabbau und Verschlechterung der Aufgabenerfüllung des öffentlichen Dienstes.

Von diesen Haltelinien redet heute niemand von unseren führenden Politikerinnen und Politikern mehr. (Mit)Regieren wird vielmehr als das eigentliche Ziel der politischen Arbeit der Partei verstanden. Im April 2021 forderten führende Politikerinnen und Politiker der Partei, DIE LINKE solle "offensiv das Ziel eines Politik- und Regierungswechsels vertreten". Die Partei ist weitgehend in der "parteipolitischen Normalität" des bürgerlich-parlamentarischen Regierungssystems angekommen.

 

DDR nun Kriminalgeschichte

In der Tradition des Bemühens der PDS um eine gerechte und differenzierte Bewertung ist die DDR nach dem Erfurter Programm ein Beispiel "für den Aufbau einer besseren Gesellschaftsordnung", ein "Sozialismusversuch" mit vielen positiven sozialen und politischen Erfahrungen, aber auch "Erfahrungen staatlicher Willkür und eingeschränkter Freiheiten".

Die Rückkehr der Regierenden ab 1990 zum Vokabular des Kalten Krieges schloss ein, dass sie die Abkehr von diesen Positionen zur Voraussetzung einer parlamentarischen Zusammenarbeit mit der Linken machten. 2014 erreichten sie, dass die Kriminalisierung der DDR als "Unrechtsstaat" in den Thüringer Koalitionsvertrag hineingeschrieben wurde. Mit dem "Kompasspapier" ersetzen unsere beiden Vorsitzenden nunmehr so ganz nebenbei die bisherige differenzierte Sicht auf die DDR durch ihre Bewertung als "Geschichte aus links begründeter Unfreiheit, staatlicher Willkür und autoritärem Obrigkeitsdenken".

 

Wie weiter?

Beim Bemühen, eine taugliche Antwort auf die Frage "Was tun?" zu finden, treffen wir auf viel Ratlosigkeit in der Partei und unter LINKEN. Wir sind für eine gründliche Parteidebatte in Vorbereitung des bevorstehenden Parteitages (am 25. Juni in Erfurt, jW). Wir übersehen dabei nicht, dass die Abkehr der Parteiführung vom Erfurter Programm weit fortgeschritten ist. Wir beteiligen uns am Protest und leisten Widerstand gegen diesen Kurswechsel. Deshalb fordern wir, endlich die langfristigen Ursachen der Wahlniederlage zu analysieren. Überzeugende Aussagen seitens der Parteiführung dazu erkennen wir bislang nicht.

"Wir wollen dieses System nicht heilen, sondern müssen es überwinden." Diese marxistische Feststellung des Ältestenrates ist der Ausgangspunkt für unsere analytischen und konzeptionellen Vorstellungen. Wir sind uns aber darüber im klaren, dass unter den Funktionsträgern unserer Partei dafür gegenwärtig keine bzw. kaum eine Mehrheit zu gewinnen ist.

Der Verfall einer einst kämpferischen linken Partei ist nichts Neues. Es gibt eine eigene vielgestaltige und frustrierende Geschichte des Opportunismus und des Niedergangs ehemals starker linker Parteien. Dem lagen vorrangig jeweils gerade auch strukturelle Ursachen wie die Versumpfung im Parlamentarismus zugrunde. Wir würden gut daran tun, Fehlentwicklungen der Vergangenheit und Erfahrungen dieser Art sehr wohl zu beachten.

Unsere Überlegungen über das in der Partei noch Mögliche und das politisch Notwendige schließen unbedingt ein, das Potential unserer Partei für die Mobilisierung von Widerstand gegen die akute Kriegsgefahr und den sich abzeichnenden Sozialabbau zu nutzen. Mittelfristig stellt sich die Aufgabe, eine marxistische Partei mit Masseneinfluss zu schaffen.

Auch wenn die Anpassung unserer Partei an den herrschenden Politikbetrieb weit fortgeschritten ist: Wir sind für eine Rückkehr zum Erfurter Programm. Wir arbeiten dabei mit dem Ältestenrat, allen linken Zusammenschlüssen und den Genossinnen und Genossen zusammen, die dafür eintreten. Real möglich ist dabei unseres Erachtens die unverzügliche politische Revitalisierung der Linken als Teil der Friedensbewegung bzw. Antikriegspartei und als Partei der Lohnabhängigen und Prekarisierten – gleich welcher Nationalität – gegen Inflation, für Klimagerechtigkeit und gegen die neue Kapitaloffensive 2030 der Unternehmerverbände.

Der Kampf zur Abwehr einer Kostenverlagerung im Rahmen der Energiewende auf die von uns vertretenen Schichten ist parlamentarisch und außerparlamentarisch konsequent zu führen. Auf der Tagesordnung steht das Zusammenwirken aller Marxistinnen und Marxisten sowie klassenbewussten Linken in der Linken und in anderen Organisationen in den anstehenden Klassenkämpfen, bei der Analyse des gegenwärtigen Kapitalismus, bei der marxistischen Bildung und der Diskussion darüber, was für eine Partei die Lohnarbeiterklasse braucht, um im 21. Jahrhundert ihre Interessen wirksam wahrnehmen zu können.

 

Unterzeichner:

Hans Arway (Suhl), Rita Bader (Arnstadt), Ralf Becker (Chemnitz), Karin Beinhorn (Göttingen), Heinz Bilan (Leipzig), Margot Bilan (Leipzig), Gretchen Binus (Berlin), Achim Bonatz (Suhl), Enrico Brühl (Bilzingsleben), Rolf Büttner (Arnstadt), Rolf Denner (Berlin), Ralph Dobrawa (Gotha), Reinhard Duddek (Erfurt), Wolfgang Eisenhardt (Kaltennordheim), Christina Emmrich (Berlin), Renate Engelmann (Schaumburg), Doris Feuerbach (Erfurt), Jochen Gladitz (Suhl), Peter Giersich (Plauen), Thies Gleiss (Köln), Eckhard Griebel (Suhl), Holger Griebner (Hamburg), Pamela Grönebaum (Bilzingsleben), Harri Grünberg (Berlin), Andreas Grünwald (Hamburg), Kerstin Haupt, Inge Höger (Herford), Viola Kellermann (Marlishausen), Lutz Kellermann (Marlishausen), Helga Kilx (Strausberg), Ingomar Klein (Berlin), Rosel Knopfe (Leipzig), Siegfried Knopfe (Leipzig), Tilo Köhler (Erfurt), Thomas Koepcke (Rostock), Siegfried Kretzschmar (Zwenkau), Angela Kuhne (Elgersburg), Volker Külow (Leipzig), Brigitte Kulitzscher (Leipzig), Dieter Kulitzscher (Leipzig), Heinz-Dieter Lechte (Hamburg), Ina Leukefeld (Suhl), Ekkehard Lieberam (Leipzig), Elke Lieberam (Leipzig), Petra Liebke (Rostock), Nadja Liedke (Berlin), Marianne Linke (Stralsund), Uli Ludwig (Halstenbek), Heidemarie Lüth (Zwenkau), Sven Lützgendorf (Leipzig), Birgit Mai (Leipzig), Sigmund Mai (Leipzig), Bruno Mahlow (Berlin), Birgit Meier (Celle), Klaus Meier (Celle), Karl-Heinz Mitzschke (Ilmenau), Holger Möller (Rostock), Evelin Novitzki (Berlin), Lagos Orban (Rostock), Kathrin Otte (Amelinghausen), Gerhard Pein (Arnstadt), Erich Postler (Münchenbernsdorf), Gerd Puchta (Rostock), Bernd Quitz (Rostock), Franziska Riekewald (Leipzig), Helmut Rielicke (Leipzig), G. Dietmar Rode (Radebeul), Bärbel Schindler-Saefkow (Berlin), Alexander Schmidt (Leipzig), Dagmar Schmidt (Suhl), Thomas Schneider (Arnstadt), Winfried Schubert (Güstrow), Hans-Joachim Siegel (Chemnitz), Joachim Sladko (Erfurt), Peter Strathmann (Göttingen), Manfred Thieme (Suhl), Joachim Traut (Suhl), Wolfgang Triebel (Berlin), Anne Urschll (Erfurt), Roland Wötzel (Leipzig), Hassan Zeinel Abidine (Leipzig)

 

Quelle: junge Welt, 28. Januar 2022, https://www.jungewelt.de/artikel/419441.debatte-%C3%BCber-linke-kurs-vergeblich-gewartet.html?sstr=modrow


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